Der Boxkeller als Männerschmiede

Weich und geschmeidig

«Manchmal spreche ich im Training vom Jäger auf der Pirsch. Wie bewegt sich ein Jäger im Wald? Er trampelt nicht einfach. Nein, er geht ein paar Schritte, er bleibt stehen, er schaut, er horcht, er geht wieder ein paar Schritte. Er ist aufmerksam mit allen Sinnen.»

Pino Coppolas Augen sind hellwach, als er vom Wald und dem Jäger erzählt, seine Bewegungen werden geschmeidig. Wir sitzen im Café und sprechen über das Boxen. Vorher, im Training, konnte ich ihn beobachten. Ich sah es, das Lauern, das Tänzeln des Jägers. Ich sah ihn, den Boxer, aber auch als Wild – aufmerksam und geschmeidig, scheu und listenreich. Und immer bereit, blitzschnell in Deckung zu gehen. Drei Männer um die dreissig trainieren an diesem Abend unter seiner Leitung. Die Sequenzen sind kurz: Lockerungsübungen, Dehnungen, dann Sprint an Ort, das Tempo wird gesteigert, schneller, noch schneller, kurze Verschnaufpausen. Pino gibt kurze Kommandos, macht mit, ab und zu macht er eine Bemerkung, gibt einen Tipp, wie bei einer bestimmten Übung die Muskeln gezielter angesprochen werden können. Die Lust, den Körper zu fordern, ist spürbar und die Konzentration auf die Übungen schafft eine angenehme Atmosphäre. Der Boxkeller ist klein, ein Keller, weiss gestrichen, mit einem rohen Bretterboden. Boxgeräte und im Nebenraum eine improvisierte Garderobe machen die Einrichtung aus. Nach dem Aufwärmen schwitzen die Männer, und auch die Fensterscheibe setzt Kondenswasser an.

Pino Coppola gibt Kurse für Männer unter dem Titel «Männerschmiede». Er ist also ein richtiger Männermacher. Was heisst das für ihn?

«Also, Boxen und ganze Männer, das ist eigentlich ein Klischee. Wenn Mann sich auf die Nase haut, genügt das nicht, Mann zu sein. Ich bilde keine Gorillas aus. Mir geht’s nicht um das übliche Klischee. In der Männerschmiede lernt man Körperbeherrschung, Disziplin, Fairness und Kollegialität. Man lernt, sich gegenseitig zu unterstützen. Man lernt, an seine Grenzen zu gehen, sie auszuweiten, aber auch zu akzeptieren, wenn man einmal nicht mehr kann. Und eigentlich geht es um den Umgang mit sich selber, sich selber sein, sich selber akzeptieren. Der Feind ist ja nicht der andere, der grösste Feind ist man sich selber. In diesem Sinn schmieden sich die Männer selber; ich unterstütze sie nur darin. Und natürlich: Es geht um Aggression. Aber ein Kuss kann manchmal aggressiver sein als ein Schlag.»

Boxen lebt von der Kunst, sich nicht von Angst und Aggressionen leiten zu lassen. Pino Coppola bietet Boxkurse für Männer an. Aber nur ums Dreinschlagen geht es dabei nicht.

Nach dem ersten Block, dem Aufwärmen, kommen jetzt Übungen mit Gewichten in den Händen. Die Männer üben kurze Kombinationen, Schläge in die Luft. Der Atem geht mit, rhythmisch, inszweidrei, drei kurze Atemstösse, drei knappe Schlagbewegungen. Die Gesichter verändern sich, werden wach, die Körper straffen sich.

«Wer nur noch Gegner hat, hat keine Partner mehr beim Trainieren, darum soll man seine Trainingspartner schätzen.» Das ist die Regel, die in Pinos Keller gilt. Imponiergehabe hat hier wenig Platz. Die trainierenden Männer machen gemeinsame Sache, sind gemeinsam unterwegs. Sie lassen sich vom Training mehr und mehr in Schweiss und Bewegung bringen, steigern gemeinsam das Tempo und kommen gemeinsam in Bewegung. Als Zuschauer fühle ich mich wohl. Eine Jassrunde in einer Vorstadtkneipe oder auch nur eine Fahrt in einem Tram strahlt mehr aggressive Energie aus, als ich hier verspüre.

Seit zwei Jahren betreibt Pino sein eigenes Studio. Im Moment führt er mehrere Trainingsgruppen, er gibt Einzeltrainings und unterrichtet auch in einem Heim für Suchtgefährdete und Strafentlassene. Einer seiner ganz besonderen Kunden ist ein Mann von 65 Jahren, der durch seine Krafttrainings weit über die Schweiz hinaus berühmt wurde. Wobei die grössere Ehre für Pino ist, dass er als jüngerer Mann einen älteren trainieren darf. Die Männer, die zum ihm ins Training kommen, sind keine verhinderten Machos. Banker, Juristen, Lehrer, Grafiker sind sie, Kopfarbeiter, die ihren Körper spüren wollen, zwischendurch so richtig Dampf ablassen, das Blut wieder in Bewegung bringen.

Aggression

Aber die Boxerei hat doch mit Aggression zu tun, will mir scheinen! Also frage ich Pino: Hast du schon mal jemanden gehauen?

«Ja, also ich musste mich verteidigen, als Kind. Sie haben mich zu dritt zusammengeschlagen, nach der Schule. Und dann, ein paar Jahre später wollte ich in den Fussballclub, da waren diese drei
wieder dort, dann ging ich nie zum Fussballspielen. Jahre später habe ich dann einen von diesen wieder gesehen und zurückgeschlagen. Aber ich könnte nicht sagen, dass mich das Gefühl
der Ohnmacht zum Boxen gebracht hat. Im Vordergrund steht für mich die Bewegung, Präzision, Köpergefühl. Wenn einer ins Training kommt und einfach mal dreinhauen will, dann ist er am
falschen Ort. In den Trainings geht es um Technik, Koordination und Kondition. Man lernt Box-Kombinationen mit Atmung, Kraft und Schnelligkeit zu koordinieren.

In der Partnerarbeit lernt man zuerst einmal sich verteidigen, man lernt parieren, blocken, ausweichen, kontern. Erst dann baut man die Technik des Angreifens auf. Diese Übungen der
Partnerarbeit werden dann im Sparring umgesetzt. Im Sparring bist du frei, hier kannst du angreifen, verteidigen, ausweichen, Schläge austeilen – und einstecken. Da zeigt sich, wie du mit Ängsten und Aggression von dir und dem anderen umgehst. Angst und Aggression liegen näher als man denkt. Wenn du in der Aggression landest, hast du schon verloren. Wer aggressiv ist, verliert die Kontrolle und vergisst, dass er selbst der Feind ist. Dich selber musst du bezwingen, in dir selbst sind die Widerstände, die du überwinden musst, der andere steht nur zufällig da.»

«Der Sieger hat eigentlich verloren», sagt Pino. Das Training ist in eine neue Phase gekommen, jetzt tragen sie die wuchtigen Handschuhe, jetzt knallt‘s. Aber nicht an die Ohren, sondern an die Geräte: Der schon oft geprügelte Boxsack kriegt ein Staccato von Schlägen, der Ball an der Schwungfeder wird in eine Umlaufbahn nach der anderen geschossen, ein Gerät, das aussieht wie ein Munischädel, kriegt so richtig was gewummert. Die Schläge auf die Geräte sind kurz, präzise und hart.

«Aggression ist zerstörerisch. Sie ist auch selbstzerstörerisch. Die Aggression, die nach aussen geht, die geht auch gegen innen. Das merkst du auch in den Trainings, das siehst du bei der Arbeit
mit den Geräten. Aggression ist nicht das Ziel. Aber beim Boxen kannst du eine unglaubliche Energie wecken. Da ist eine Urkraft, die kannst du holen. Das ist gut, das ist stark, das haben wir in uns, das haben wir als Männer. Es ist schön, diese Kraft wecken zu können. Explodieren können, so richtig elementare Energie freisetzen. Aber ohne in der Aggression zu landen. Die Frage ist dann immer: Wie bringe ich diese Kraft, diese Energie in Bewegung. Wie kann ich sie in eine Kombination bringen, wie setze ich sie in eine gezielte Bewegung um.»

Schon wieder Hirsch und Jäger, jetzt funkeln die Augen wieder. Und ich erinnere mich an einen Besuch im Kloster, wo die Mönche die tollsten Schlachtlieder in schwebender Gregorianik in die stille Kirche sangen und dabei die friedlichsten Menschenseelen behielten. Die Kunst des Boxens ist es, eine urtümliche Form der Energie zu wecken, ohne sich von ihr beherrschen zu lassen.

 

männer | zeitung 12/13
Ivo Knill